BLA LAB
MEDUSA PROJECT





Die Würde des Menschen ist unantastbar




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KREUZZUG
oder: „Die Hand, die man nicht abhauen kann, muss man küssen.“
(Heinrich Heine)

Bruno Labriola (Abkürzung: Bla) und Leo Abderhalden (Abkürzung: Lab) vertreiben sich die Zeit, die ihnen durch den Verlauf der Fussball-WM schon früh geschenkt worden ist, und werden dabei tiefsinnig.

Bla Die Blätter gleiten Bruno unter dem linken Daumen durch, dann greift er zu und zupft mit dem angefeuchteten rechten Zeigefinger das zuoberst liegende Blatt aus dem Bund. „In den Hauptstädten wird das Menschenblut stets am wohlfeilsten verkauft.“ (Rousseau) Daran erkennst du Kultur. Tag für Tag. 365 oder sogar 366 Mal. Nicht nur einfach „Mach es wie die Sonnenuhr“, nicht einfach nur „Lebe deinen Traum.“ Nicht einfach nur diese Weisheiten aus dem Poesiealbum. Und er reisst gleich noch das nächste Blatt vom Block. „Selbst die Beständigkeit ist nichts weiter als ein langsames Hin und Her.“ (Montaigne) Da kann ich auf ministerielle Wertebotschaften und salbungsvolle Gemeinschaftsappelle ruhig verzichten.

Lab Das mit der Wertegemeinschaft und so ist ja aber irgendwie nicht mehr wegzukriegen aus den Köpfen und Mündern. Alles nicht so einfach zu erklären. Leo streicht mit dem Löffel das Pulver glatt und schraubt die Kaffeekanne zusammen. Was denn überhaupt Werte und so ähnlich. Und was erst auch noch Gemeinschaft. Ist ja schon ein Ding. Tönt nach was. Kannst dich ja ewig mit beschäftigen, ist klar. Leo setzt die Kanne auf den Herd. Kommt sehr schnell und gar schön von den Lippen: Werte. Aber definieren?

Bla Da hast du 365, wenn du Glück hast: 366 davon. Ist schon recht viel, kannst du aber noch überschauen. Und dann gibt es da ja doch auch noch Wiederholungen: „In der Bresche stehen und aushalten, bis man fällt, das ist das Beste.“ (Fontane) Also fast - so ähnlich wie Wiederholungen: „Wichtiger ist, von wo man fällt, als wohin.“ (Seneca)

LabLiesse sich dann vielleicht zusammenfassen. Gemeinsamer Nenner vielleicht. Wie bei einer Verfassung, die ja auch davon kommt. Nicht von den Kalendersprüchen. Aber vom Fassen. Man muss es fassen können. Leo stellt zwei Tassen und einen Löffel auf den Tisch. Wie in der Präambel einer europäischen Verfassung.

Bla Nur dass es die nicht gibt.

Lab Dann halt die deutsche, ist so gut wie. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Grundgesetz, Art. 1, Abs. 1. Kurz und bündig. Hätte Platz auf jedem amtlichen Formular. Auch über jeder Schulstubentür. Nimmt nicht mehr Platz weg wie ein Kruzifix.

Bla Bruno hebt die Arme über den Kopf und fixiert einen Kalenderzettel mit einem Reisszweck am Balken über der Tür. „Es ist eine Eigenschaft der Heroen, mit Heroen übereinzustimmen.“ (Gracian) In diesem Zeichen wirst du siegen.

Lab Wen meinst du mit du? Und mit Zeichen? Konstantin ist ja wohl nicht mehr ganz die aktuelle Adresse.

Bla Lassen wir den in Frieden ruhn. Und dann nimm das SEK.

Lab Dann sagt mir Konstantin doch noch ein bisschen mehr mit seinem Toleranzedikt von Mailand als - dieses SEK – wie viel?

Bla Noch nie was gehört von den Spezialeinsatzkommandos? Dann sagt dir vielleicht GSG 9 etwas. Terror. Also Terrorbekämpfung und so. IN HOC SIGNO VINCES. Mit Eichenlaub garniert. Links und rechts. Wie Flügel. Das macht was her. An der Schulter, auf der Brust.

Lab So funktioniert also Tradition. Immer ein wenig undurchschaubar und über Hintertreppen. So stiftet sich Identität, wo es drauf ankommt. Und keiner schaut genauer hin, und niemand von uns könnte angeben, was denn dieser Sieg im Zeichen von was auch immer soll. Da kannst du noch so wild in deinen Kalenderzetteln blättern. Da kannst du rauszupfen und austauschen und kombinieren. Ein SEK macht nicht gross auf Diskussion. Und zeigt klar, was Definition.

Bla So leicht lass ich die Zettel nicht fahren. „Mehr als sichtbare gilt unsichtbare Harmonie.“ (Heraklit) Im Zeichen der unsichtbaren Harmonie lässt sich mit der sichtbaren ruhig etwas salopper umgehen. Aber wart, da kommt noch was: „Wo keine Götter sind, walten Gespenster.“ (Novalis). SEK, Götter, Gespenster. Passt alles irgendwie nicht so ganz zusammen. Aber das mit der Würde des Menschen – das könnte doch irgendwie passen. Als Klammer. Nein, Klammer tönt bescheuert. Dein Nenner kommt da schon viel besser daher.

Lab Ja, das könnte passen. Alles andere wäre auch echt irritierend. Als die Kaffeekanne zu zischen beginnt, dreht Leo die Gasflamme klein und bleibt beim Herd stehen. Wobei – besondere Umstände verlangen ja sicher auch besondere Massnahmen.

Bla Jetzt kommst du dann auch noch mit dem Ausnahmezustand: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der „Ausnahmezustand“, in dem wir leben, die Regel ist. “. Lehn dich da zwischen Walter Benjamin und Carl Schmitt nicht zu toll zum Fenster raus. Findest du beide übrigens auch nicht im Kalender.

Lab Dann kommen wir halt noch mal auf den gemeinsamen Nenner zurück. Da liegt ja dein Ehrgeiz, dein Ansatz hinter dem Zettelzupfen. Nur dass du das nie hinkriegst. Oder dann ziemlich schräg. Leo giesst zwei Espressotassen voll. Schwarz?

Bla Bruno nickt. Dann meinst du also gar: Volk ohne Nenner? Wie weiland ohne Raum? Bruno löffelt Zucker und rührt. Und was soll dann bleiben – als Gemeinsames, Verbindendes, Verbindliches, meinetwegen auch Vertrautes? Auf das du und ich und wir oder wer auch immer...

Lab „Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.“ Leo führt die Tasse zum Mund. Der Kaffee ist ihm noch zu heiss und er stellt seine Tasse zurück auf den Tisch. Auf die Tageszeitung. Rechts vom Leitartikel.

Bla Echt beeindruckende Poesie. So kann es nur herauskommen bei echten Dichtern und Denkern. Woher hast du denn das?

Lab So steht es in der Schweizer Bundesverfassung.

Bla Brunos linker Daumen gleitet sanft über die Unterseite der Kalenderblätter, ohne sie so weit zu spreizen, dass etwas zu entziffern wäre. Kein übles Resultat für Bauern und Banker. „Die Würde des Menschen“ und so - so, ist sie das? Überhaupt und immer schon und immer wieder? Einfach so?

Lab Schlag das doch einfach für den nächsten Kalender vor. Tönt gut, tut gut, tut nicht weh – weil unverbindlich. Leo streckt seine rechte Hand nach der Kaffeetasse aus, hält dann aber inne. „...und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.“ So geht es weiter.

Bla Wie meinst du das?

Lab In der Bundesverfassung. Und erst noch ganz weit vorn.

Bla Das wird ja immer toller. Und so was von konkret. Aber wer will sowas schon hören? Stell dir vor die Talkshow mit dem Titel: „Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.“ Stell dir vor, wer da geladen werden müsste. Stell dir vor, wer da zu Wort kommen müsste. Und wem der Mund gestopft gehörte. Schlicht konkordanzgefährdend. Ein echter Quotenkiller.

Lab Dann war das mit dem gemeinsamen Nenner doch keine so gute Idee. Oder dann nicht mit diesem. Vielleicht machst du am besten weiter mit deinen Zetteln.

Bla Bruno nimmt sich Zeit. Viel Zeit. Ist gar nicht mehr so einfach. Nach Würde, Kruzifix, SEK, Eichenlaub, Stärke des Volkes... Gar nicht mehr so einfach. Irgendwie gar nicht mehr lustig. Aber nimm das: „Alles, was du vermagst, ist dein Vermögen.“

Lab So triffst du den Nerv. Ein echter Quotenrenner. Es lebe die Philosophie der Ich-AG. Aber du hast geschummelt. Von wem soll das schon kommen?

Bla Vom Max Stirner. Leo Genial. „Der Einzige und sein Eigentum“. In diesem Zeichen wirst du siegen. Das fährt ins Kreuz. „Die Würde...“ und was von ihr bleibt. Leo nimmt seine Kaffeetasse von der Zeitung. Zurück bleibt ein zerbrechlicher Ring.

Rolf Zbinden







IL N’Y A QU’UN SEUL MONDE
(Alain Badiou)

Seit Jahren nun schon öffnet sich an den Grenzen Europas ein Massengrab, das Tag für Tag immer mehr Menschen verschluckt. Die zahllosen Zeugnisse des Elends, der Verzweiflung, aber auch des Muts und der Entschlossenheit übertreffen und überschlagen sich - und machen sprachlos. In dieser Situation, in dieser historischen Stunde fällt der offiziellen und professionellen Politik nichts anderes ein, als zu diskutieren: über Schengen und Dublin, über Kontrollen und Zäune, über Verteilschlüssel und Quoten, über Fluchtrouten und Schlepper, über Einreisestopp und Rückschaffung. Hauptsache: Es wird so getan, als würde etwas getan, das etwas mit der Situation zu tun hat, das ihr angepasst ist, ihr entspricht. Es wird so getan, als hätten wir es mit einem vorübergehenden Missstand zu tun, mit einer Störung des Gleichgewichts auf einem ansonsten sich selbst regulierenden Markt der Waren und Menschen.

Und entsprechend führen sich diejenigen auch auf, die in Politik und Wirtschaft über Kohle, Macht und das veröffentlichte Wort und Bild verfügen. So schlurfen sie denn telegen auf ihren Pool zu, hoch über dem Zürichsee, und reissen ihre Witze über die Menschen, die in überfüllten Booten und Zügen verzweifelt ihre Chance auf eine menschenwürdige Zukunft wahrnehmen. Dieses Pack zündet selber keine Flüchtlingsheime an - dafür sorgt die Arbeitsteilung, die wir aus der Geschichte des Faschismus bestens kennen. Dafür sorgt das Re- servoir an Dumpfbacken, Ressentiment-Beladenen, Frustrierten und Wutbünzlis. Das Grosskapital indes braucht sich angesichts dieser Fusstruppen seine Finger nicht schmutzig zu machen. Die Ausplünderung ganzer Kontinente lässt sich locker unter courant normal verbuchen. Der Markt richtet es alleweil - und Geld stinkt nicht. Wer könnte sie auch zur Verantwortung ziehen, wenn bei ihrer freien Jagd nach Profiten Millionen von Menschen auf der Strecke bleiben - oder das Weite suchen?

Derweil zählt aber auch für den konkordanten Schweizer Bundesrat und die ihn konstituierenden Parteien nur eines: dass von diesen ausgebeuteten Menschen auf ihrem langen Marsch ja niemand ausser Kontrolle vor unserer Haustür steht und seine Rechte einfordert - ganz einfach seine Rechte als Mensch wie du und ich. Wir können und wir wollen uns aber dieser Realität nicht länger verschliessen. Und diese Realität lässt sich nicht mit einfachen Lösungen und Rezepten bannen. Auch die Sprache des Widerstand lässt sich nicht umstandslos aus den Kämpfen der Vergangenheit kopieren. Auch sie muss - Hand in Hand mit neuen Formen des Widerstands - immer wieder neu erfunden werden, wie der Dichter Bertolt Brecht aus den Erfahrungen des Nazifaschismus lernte und lehrt: «Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser.»

Wir stehen in der Verantwortung auf eine Art und Weise, die uns nicht so schnell loslassen wird. Wir werden nicht ruhen können, bevor die heimlichen und unheimlichen Brandstifter in ihren Villen merken, wie es heiss unter ihrem Hintern wird. Wir werden nicht ruhen, bis die fremdenfeindlichen Hassprediger ihre Boote besteigen - und da gönnen wir ihnen von Herzen ihre Jachten -, um sich als Fachkräfte zu bewerben bei den skrupellosesten Ausbeutern dieser Welt und mit diesen zusammen schliesslich auf der Müllhalde der Geschichte zu landen.

Wir können nicht ruhen, solange Menschen auf Grund von Herkunft, Hautfarbe und Denkweise gegen einander ausgespielt werden. Wir können nicht ruhen, wenn unsern Mitmenschen das Bleiberecht und damit das Existenzrecht verweigert wird. Wir können nicht ruhen, bevor Heimat heissen wird: willkommen zu sein - als Mensch dieser Erde bei den Menschen dieser Erde. Qui est ici est d’ici. Il n’y a qu’un seul monde. Es gibt nur eine Welt. Seid willkommen! Friede den Hütten, Krieg den Palästen!

Rolf Zbinden erschienen im vorwärts




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ANGST ESSEN SEELE AUF

Nach den vielen einzelnen sozialen Abbaumassnahmen der vergangenen Jahre will die neoliberale Mehrheit in Regierungs- und Grossem Rat mit dem neuen „Sparpaket“ voll durchstarten. An den Kragen soll es den Armen, Schwachen und Kranken gehen, den Jungen und den Alten, von der Schule bis zur Pflege. An den Kragen – nicht bloss ans Portemonnaie! Die Rechte gibt den Ton an, die Mitte erweist sich ein weiteres Mal als Phantom. Und die parlamentarische Linke? Sie redet und jammert und vertröstet auf die kommenden Wahlen.

Was die Rechte hier vorantreibt ist ein zynisches Projekt der Diskriminierung, Ausgrenzung und gesellschaftlichen Entsolidarisierung zur „Entlastung“ der Unternehmen und Besitzenden. Und die grosse Schar der rechts Wählenden reagiert darauf so, wie sie es nicht anders gelernt hat: mit Abgrenzung, Konkurrenz und Ressentiments jenen gegenüber, die am stärksten von den sozialen Abbaumassnahmen betroffen sind.

Der Angriff auf die Armen, Schwachen und Kranken droht jedoch auch auf diejenigen durchzuschlagen, die in starken rechten Armen Zuflucht suchen. Diese Angst ist nicht totzuschweigen, sie kann bloss verdrängt werden. Angst vernebelt aber nicht nur den klaren Blick und den kritischen Verstand – Angst essen auch Seele auf, wie Rainer Werner Fassbinder schon vor längerer Zeit wusste und darstellte: die Seele von Gemeinsinn, Würde und Solidarität.

Und postwendend stehen wieder die gleichen Einpeitscher der Rechten auf der Türschwelle und verkaufen den Verängstigten ihre regressiven Muntermacher: noch mehr Strampeln gegen unten und rundum, noch mehr Ausgrenzung und Distanzierung von allen, die nicht dazu gehören sollen. Und damit schliesst sich der Kreis von unterwerfen und sich unterwerfen und unterwerfen.

Angst frisst nicht nur das Vertrauen in andere weg, sondern auch das Vertrauen in die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, in die Selbstwirksamkeit. Und diese Angst, die breite gesellschaftliche Kreise erfasst hat, lässt sich nicht weg reden – sie lässt sich auch nicht einfach durch einen Stimmzettel für wen auch immer bannen.

Die bleierne Zeit wird erst dann durchbrochen werden können, wenn sich Menschen solidarisch selbst ermächtigen, ihre Zukunft in die Hand zu nehmen und an allen Fronten gegen Benachteiligung, Ausgrenzung und Diskriminierung vorzugehen. Wir sind alle Schwache. Bis wir gemeinsam handeln. Und mit unserem Handeln definieren, was soziale Sicherheit bedeutet. Was es heisst, frei von Angst zu leben.

Ursula Engel erschienen im vorwärts

Broken Words

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